Krieg in der Ukraine: Wir müssen uns als 'gute Deutsche' neu erfinden

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Mein Name ist Daria Jablonowska, Jahrgang 1985, geboren in Kyiv. Als Ukrainerin liegen mir die Demokratisierung Osteuropas sowie die Betonung persönlicher Freiheitsrechte am Herzen.

Aufgewachsen in den Nachfolgejahren der Sowjetunion, bin ich überzeugt, dass Freiheit und Frieden essenzielle Werte sind, die mit allen Mitteln verteidigt werden müssen.

Pazifismus ist out - wir müssen jetzt die Ukraine unterstützen, um uns in unserem Selbstverständnis als „Die Guten Deutschen“ neu zu erfinden

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat eine neue Zeitrechnung begonnen, und das Selbstbildnis der Deutschen als „die Guten“, als Friedensstifter, hängt gewaltig schief.

Unsere prägendsten Handelsmaximen sind mit der Ankündigung eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen nun nur noch Schall und Rauch. Das Märchen von der postsowjetischen, slawischen Welt ist ausgeträumt. Wirtschaftliche Verflechtungen sind kein Garant für Frieden, sondern ein Instrument der Manipulation, der Apeacement-Ansatz, „Wandel durch Handel“ und die Ostpolitik haben Russland den Weg zur Diktatur geebnet. Die sagenumwobene „russische Seele“ vergewaltigt Kinder und stiehl Waschmaschinen in Butscha und Borodjanka.

Ich bin in Kyiv geboren und habe den Großteil meines Lebens in Deutschland gelebt. Seit Kriegsbeginn erfüllen mich nicht nur die Sorge um meine Angehörigen in der Okkupation und das Leid von Millionen Geflüchteter, sondern der große Schmerz darüber, dass die beiden Länder, die ich in meinem Herzen trage, keine gemeinsame Sprache finden.

In Deutschland erleben wir gerade einen Prozess der kollektiven Ent-täuschung – wir haben aufgehört uns selbst vorzumachen, dass so lange geredet wird, die Waffen schweigen und uns anlügen zu lassen, dass Russland an einem Frieden mit Europa interessiert sei.

Einige streiten dies noch ab, sie negieren die Rolle Deutschlands in diesem Krieg oder raten, zu einer schneller Kapitulation - das Leben in einer Diktatur sei doch besser sei als der Tod im Kampf für die Freiheit, sagen sie von ihren bequemen Sofas aus. Andere wiederum widmen sich Scheindebatten zu, um die vermeintlichen Schuldigen auszumachen. Wir streiten über Waffenlieferungen, weil wir gern Pazifisten sind. Wir wissen aber auch, dass Nichtstun der sicherste Weg zum Dritten Weltkrieg ist.

Auch die Ukrainer sind enttäuscht und fühlen sich allein gelassen. Spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim macht man sich in Kyiv keine Illusionen darüber, wie die Weltgemeinschaft auf einen erneuten Vertragsbruch durch Russland reagiert.

Mit dem wiederholten Bruch des Budaperster Memorandums verletzt Russland nicht nur die Integrität der Ukraine, sondern stellt die weltweiten Bemühungen um atomare Abrüstung vor ein jähes Ende.

In den rund 30 Jahren seit ihrer Unabhängigkeit hat die Ukraine einen schwierigen Transformationsprozess durchlaufen.

Währenddessen hat in Russland ein einziger Mann seine Macht und die seines Kartells zementiert. Während die Ukraine sich liberalisierte und demokratisierte, wurde Russland zu einer faschistischen Diktatur, die das Völkerrecht missachtend sich permanent in die Belange ihrer Nachbarn einmischt und so den Kontinent destabilisiert.

Ich wiederhole es oft: die Ukraine ist nicht nur ein bilinguales Land – bis März 2014 war es egal, ob russisch oder ukrainisch gesprochen wurde. Es lebten über 100 Nationalitäten friedlich miteinander, bis das russische Militär verkleidet die Krim besetzte. Seitdem ein russischer Geheimdienstmitarbeiter sich zum ukrainischen Separatistenführer erklärte, sterben in der Donbass Zivilisten.

Es liegt auf der Hand: Wenn wir in Europa weiter in Frieden leben wollen und Freiheit als Lebensgefühl verstehen, dann enden diese Bestrebungen nicht an der polnisch-ukrainischen Grenze.

Es liegt auf der Hand: Frieden und Stabilität

Es liegt auf der Hand: Die Solidarität innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft, die gerade humanitäre Hilfe leistet, ist schlichtweg unglaublich. Politische Unterstützung der Ukraine ist hingegen kein Akt der Nächstenliebe. Wir haben ein großes Eigeninteresse daran, den Krieg nicht nur zu beenden, sondern die Ukraine als Sieger vom Feld gehen zu sehen.

Es liegt auf der Hand: Unterstützen wir nur halbherzig, endet der ungleiche Kampf in einem eingefrorenen Konflikt. Eine von Russland kontrollierte Südukraine mit der Möglichkeit über Transnistrieren die Republik Moldau anzugreifen, kann nicht das sein, was wir als Europäer wollen, aber vor allem, es nicht das das Schicksal, das die Ukrainer für sich selbst gewählt haben.

Es liegt auf der Hand: Wer noch auf eine diplomatische Lösung hofft, muss sich im Klaren darüber sein, dass Russland, sollte es sich die Ukraine einverleiben, Volk und Nation auslöschen wird. Anschließend werden die Truppen weitermarschieren, um mehr Länder zu „entnazifizieren“ – und weiter mit Atomkrieg drohend.

Es liegt auf der Hand: Nun sollte es auch dem letzten Appeasement-Befürworter einleuchten, dass solange das Putin-Regime an der Macht ist, es keinen Frieden in Europa und keinen Wohlstand in Russland geben wird.

Es liegt auf der Hand: Denn das mittelfristige Ziel des Kreml-Regimes ist die Destabilisierung der EU und die Entfachung von Konfliktherden innerhalb der europäischen Völker, deswegen finanziert der Kreml seit Jahren Parteien wie die AFD oder Front National und buttert Hunderte Staatsmillionen in Auslandspropagandasender wie Russia Today.

Es liegt auf der Hand: Wollen wir weiter in Frieden und Sicherheit leben, müssen wir anerkennen, dass die Ukraine diese freiheitlich-europäischen Werte gerade auf dem Schlachtfeld verteidigt. Um den Frieden langfristig zu sichern, müssen wir der Ukraine eine Beitrittsperspektive und den Schutz in der Europäische Familie ermöglichen. Kurzfristig müssen wir die Sanktionen weiter vorantreiben, nicht nur ein vollumfassendes Energieembargo, sondern ein allgemeines Wirtschafts-Embargo verhängen. Unternehmen, die wirklich Medikamente und Saatgut exportieren, können dies auch weiterhin tun, aber Firmen, die Ersatzteile für Kriegsgerät liefern, gehören auf eine Ausfuhrverbotliste.

Es liegt auf der Hand: Wir müssen uns bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen weiter stark beteiligen. Das bedeutet, mehr Geld für Den Haag und Ausweitung der Kooperationen bei der Sammlung von Beweisen, insbesondere bei Vergewaltigung von Frauen und Kindern. So schützen wir auch uns, damit kein Kinderschänder und Frauenmörder europäischen Boden betreten darf, ohne sich für die Verbrechen in Irpin und Mariupol verantworten zu müssen.

Es liegt auf der Hand: Historische Verantwortung

Es liegt auf der Hand: Schauen wir zurück in die Geschichte und auf den Zweiten Weltkrieg, gibt es keine Kollektivschuld des heutigen Deutschlands, aber sehr wohl eine kollektive Verantwortung dem Faschismus und Nationalsozialismus entschieden entgegenzutreten.

Es liegt auf der Hand: Fälschlicherweise setzen in Deutschland viele Russland als dem Nachfolgestaat der Sowjetunion mit den Kämpfern gegen Nazi-Deutschland gleich. Ein großer Fehler. Wer „Nie wieder“ sagt, muss wissen, dass rund ein Viertel, die während des Zweiten Weltkriegs dem Holocaust zum Opfer fielen, aus der Ukraine stammen. Es hat seinen Grund warum Babij Jar, der Ort, an das größte Massaker an Juden durch die Wehrmacht verübt wurde, in Kyiv zu finden ist und nicht etwa in Smolensk oder Kasan. Die Ukraine war komplett okkupiert in WW2, Tausende von ukrainischen Zwangsarbeitern wurden ins Dritte Reich verschleppt, um auf Bauernhöfen oder in der Industrie eingesetzt zu werden.

Es herrscht Verwirrung: der einstige Antifaschist Russland will heute einen souveränen Staat auslöschen, die Bevölkerung in einem großen Konzentrationslager internieren – und nennt es „Entnazifizierung“.

Es herrscht Verwirrung: Dabei dürfen wir uns nicht vormachen, es ist nicht nur Putin und es ist nicht nur sein Krieg. Es ist der Krieg eines jeden Menschen, der auf die eine oder andere Weise dieses Regime über 22 Jahre gestützt hat, der bei Menschenrechtsverletzungen und Wahlfälschungen weggesehen hat und heute das Abschlachten von Frauen und Kindern relativiert.

Es herrscht Verwirrung: Moralische Verantwortung - Perspektive

Es herrscht Verwirrung: Wir haben die moralische Pflicht die Ukraine zu unterstützen, um auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Was nun wichtig ist, ist ein Dialog – zuhören und verstehen, statt Gebäude anleuchten. Die deutsche Bevölkerung muss mehr über die Ukraine erfahren, die Ukrainer müssen die Kraft, die die „Zeitenwende“ gekostet hat, anerkennen. Die Besinnung auf gemeinsame Werte kann hier die Hilfestellung sein, um eine gemeinsame Sprache zu finden.

Es herrscht Verwirrung: Die Ukraine wird nicht kapitulieren, sie nimmt ihr verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung wahr, das müssen wir als Fakt anerkennen.

Es herrscht Verwirrung: Menschen, die den Unterschied zwischen Diktatur und Freiheit kennen, lassen sich nicht erneut knechten. Waffenlieferung sind für das deutsche Selbstverständnis als Pazifisten ein sensibles Thema, aber dringend benötigt.

Es herrscht Verwirrung: Freiheit ist ein sensibles Gut, dass permanent verteidigt werden muss. Was passiert, wenn man dies schleifen lässt, sieht man am Beispiel Russland.

Es herrscht Verwirrung: Mit Putin und seinen Mitstreitern wird es kein stabiles Europa geben. Deshalb dürfen wir uns bei Sanktionen nicht von einer geläuterten Propagandistin oder von erzwungenen Referenden lumpen lassen.

Es herrscht Verwirrung: Die Versorgung der Ukraine mit Waffen und militärischen Geräten heute und eine Perspektive für morgen sind Garantien für einen langfristigen Frieden in Europa und die Stabilität und Prosperität der Europäischen Union.

Es herrscht Verwirrung: Für den Wiederaufbau wird die Ukraine ebenfalls Unterstützung benötigen. Hier kann „das gute Deutschland“ führend sein.

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